Donnerstag, 22. November 2012
Wie soll ich das moralisch bewerten, wenn die Neue meines Vaters meine Mutter mitpflegt. Wie soll ich das bewerten wenn ich die einzige im Team bin, die dem Chef Ansagen macht und anscheinend auch die einzige bin, ich ihn letzten Endes wirklich mag, es gut mit ihm meint. Wie soll ich das bewerten, dass ich die Entscheidung getroffen habe, dass ich jeden Abend Bier trinke und so weiter und so fort. Ich höre auf zu bewerten, ich lebe einfach nur noch. Ich erlebe nur noch. Ich fließe einfach nur noch mit.

Wie gut geht das, wenn da die gute Musik im Hintergrund läuft (L.Cohen, tell me again), wenn das Bier läuft, wenn eine liebe Kollegin genau genommen eine neue Freundin zu Besuch kommt, mein spontan gezaubertes Essen mit Genuss verschlingt, wenn es viele herzliche Umarmungen gibt, wenn ich den Traummann/Kollegen aus der edv kurz treffe, eine Zigarette zusammen absagen muss, weil ich zu meiner Mutter muss, weil mein Vater operiert wurde, die Pflegefrau frei braucht, mein Vater zu einer Nachuntersuchung muss, und ich dadurch einfach zwei Stunden aus dem Büro abhauen und meine Mutter betreuen muss ich einen Außentermin habe, er mich noch fragt ob ich eine Frisur habe und ich nur kurz antworte dass ich nach zehn Jahren glattfönen jetzt die Naturlocken wieder trage und er mir sagt dass er das gut findet und wir beide etwas traurig reinschauen, als ich mich verabschiede, wie gut geht das wenn da diese wirklich guten Freunde sind, eine gemütliche Wohnung, ein paar herzliche Internetbekanntschaften, ein Blick in den Spiegel der nur Gutes widergibt und das Konto sich nie gesprengt anfühlt, egal was da an Rechnungen kommt. Dann geht das ziemlich gut. Nicht den Fokus darauf legen, was fehlt , vielmehr darauf, was alles geht.

Und dennoch. Als wir endlich alleine sind umarme ich sie, kuschel sie, frage ob sie mich kennt, warte keine Antwort ab, erläutere kurz dass ich ihre Tochter sei, nenne meinen Namen, flüster ihr zu, ob sie noch Frfagen hätte, ich würde ihr die Antworten geben. Sie checkt mich und ich meine sie möchte mir was zu meinen Haaren sagen, dass das gut aussieht oder so. Ob sie es noch aushält frage ich sie als ich das Gefühl habe dass sie checkt dass ich das da gerade bei ihr bin und wir alleine sind. Sie vertuscht ein nein, meine ich. Sie versucht die Haltung zu wahren. Sie trägt das alles mit Haltung, diese Krankheit, dieses nicht-kennen, nicht-wissen. Ich glaube sie ahnt wie lange es noch dauern wird bis die Sonne wieder in den Garten kommt. Ich glaube sie wird entscheiden, dass das noch zu lange dauert. Sie hat immer klare Entscheidungen getroffen. Sie wird das auch jetzt tun. Ich bin ganz kurz davor alle Entscheidungen mitzutragen.

Spinne ich eigentlich schon? Wäre wahrscheinlich in dieser Situation einfach auch ok. Langer Winter beginnt. Ich fühle mich gewappnet.