Nach dem langen Treffen fahre ich einen Umweg. Ich habe es nicht eilig. Ich fahre aus der Plattenbausiedlung raus, durch die kurvigen engen Straßen und erinnere mich in etwa, wer da so alles früher wohnte. Mir fällt auf: ich kenne mich dort aus. Hatte ich schon fast vergessen. Fahre weiter aber nicht rechts zur Hauptstraße und den direkten Weg, sondern biege links ab und erinnere mich weiter. Rolle langsam den Berg hinab, durschstreife den Stadtteil. Ich fahre den Umweg, weil ich mich erinnern will. Nach ein paar km fühle ich mich um zehn, fünfzehn Jare zurückversetzt. Fasse routiniert an mein Kassettendeck, doch da läuft nichts. Ich fahre weiter den nächsten Umweg, fahre den nächsten Stadtteil ab, fahre durch eine nächste Epoche aus meinem Leben. Die Straßen leer und dunkel. Ich fühle mich verloren. Wie ein verlorenen Kind. So, wie ich mich in letzter Zeit viel zu oft fühle. Früher hatte ich diese Gefühl seltener. Sehr selten. Auch wenn alles schlimm war zu Hause, hatte ich doch immer das Gefühl einen Platz auf dieser Welt zu haben. Es ist als hätte sich dieses Platzlosgefühl erst jetzt herausgeschält, als wäre es früher noch einfach mehr ummantelt werden können. Vielleicht passt dazu was ich damals immer sagte zum Kiffen: die Tüte abends legt einen Mantel über alles Schlimme und man kann endlich zur Ruhe kommen. Alkohol ist anders. Alkohol schält. Alkohol ist eine ehrliche Droge. Alkohol ist eine harte Droge.
Wir stehen bei meinen Eltern vor der Tür und klingeln. Meine Mutter kommt angelaufen, als würde der Mutterinstinkt ihr sagen wer da jetzt kommt, kann die Tür aber nicht öffnen, aber mein Vater ist sofort zur Stelle, voller Freude. Sie umarmt meine Mutter und meine Mutter weiß nicht wer sie umarmt. Sie umarmt meinen Vater, große Freude. Wir legen unsere Sachen ab, unsere Errungenschaften, unsere Shoppingtüten. Ich gehe weiter ins Esszimmer und sehe wie schön der Tisch gedeckt ist. Bei meinen Eltern ist das immer stilvoll. Ich mag das. Wir zeigen unsere neuen Sachen. Meine Mutter weiß nicht was los ist, kommt nicht mit, überspielt das aber gut. Ich flüstere ihr ins Ohr ob sie weiß wer das ist und wenn nicht, könnte ich ihr das eben erklären. Sie denkt es ist eine Freundin von mir. Eigentlich sehr schön dass es sich für sie so anfühlt. Sie fühlt dass da jemand ist mit dem ich verbunden bin. Dass sie noch stärker mit diesem Menschen verbunden ist, kann sie nicht mehr einordnen. Ich hole mir ein Bier aus dem Keller. Ich bringe meine Mutter zum Tisch. Sowas dauert. Schritt für Schritt und dabei sind es nur ein paar Meter und eine kleine Stufe (Stufen sind ganz schlimm für sie). Essen fertig, alle setzen sich. Ich stehe noch mal auf, will die Hintergrundkulisse ausschalten, die ganzen Lichter und offenen Türen, den lauten Fernseher hinten im Wohnzimmer. Als ich den Fernseher ausschalte läuft gerade die Anfangsmusik von Verbotene Liebe. Ein kurzer Stich in meinem Herzen. Das war damals immer die Zeit die meine Mutter und ich mitteinander am Tag verbrachten: zusammen Verbotene Liebe schauen. Damals als Jan und Julia noch den Titel der Serie gaben. Irgendwie war das immer unser Treffpunkt um kurz vor sechs.
Das Essen ist formidable! Das Kind isst, als hätte es seit Monaten keinen Salat mehr gesehen. Sie freut unendlich über die Dose Cola die ihr mein Vater aus dem Kühlschrank reicht. Sie erzählt von der Schule, wie gut sie geworden ist, wann sie immer losfahren muss, wieviel Stunden sie wann hat und dass die Hauswirtschaftlehrerin keine Gebärden kann und deswegen in den Stunden keiner was versteht. Die anderen Fächer werden in Gebärden und Lautsprache gehalten. Nachtisch? Natürlich möchte sie Eis. Wir verabschieden uns, fahren mit der UBahn zu mir, holen meine Büroschlüssel, setzen uns ins Auto und fahren in mein Büro. Sie freut sich mein Büro zu sehen, liest meinen Namen an der Tür, hilft mir kurz mit bestimmte Blätter im richtigen Moment in den Drucker im Nebenraum zu legen und dann fahre ich sie nach Hause. Sie wundert sich was für einen kurzen Weg ich kenne. Mein Barrio.
Ich quäle mich durch den Tag, versuche was zu erledigen, kann mich nicht entscheiden ob ich joggen gehen soll, fahre rum, fahre wenigstens bei der Autowerkstatt vorbei und melde den Wagen für übernächste Woche an (OT: ist Winterreifenpflicht eigentlich ab 1.11.???), kaufe irgendwas ein, Salat und Salatsoße, telefoniere kurz mit der Kollegin und mache klar, dass ich erst Abends ins Büro komme (wenn keiner mehr da ist, hehe) und ihr die Sachen dann auf den Schreibtisch legen. Schließlich bin ich irgendwann wieder zu Hause und fange an zu putzen. Es müsste der Keller, die Abstellkammer, der Schrank im Wohnzimmer und der Kleiderschrank aufgeräumt werden, außerdem der Flur gestrichen und die Wäsche gebügelt werden aber ich kann nur das Nötigste. Immerhin schaffe ich den Badezimmerschrank. Zwischendurch texte ich die Urlaubsfrau an, ob sie wieder da sei, später telefonieren wir. Ich erzähle von den letzten Tagen, von der Nacht mit dem schwulen Mann, wie schön wir aus tanzen waren, von dem Konzert und den jungen Männern von den ich jeden hätte gern mitgenommen, von dem schmutzigen Sex ich kurz vorm Einschlafen hatte, davon dass mein Psychologe eine viertel Stunde mit mir überziehen musste, weil er mich in dem Zustand nicht gehen lassen wollte, von dem Kuscheln mit den lieben Freunden morgens im Familienbett mit dem Baby und dem jetzt schon größeren Kind, vom Sport und von der Sauna. Aber ich erzähle ihr nicht, wie sehr gerne ich mit ihr in den letzten Tagen Zeit verbracht hätte und dass ich einen ganzen Tag verkatert im Bett gelgen habe und mir vorgestellt habe, wie wir intim wären. Sie erzählt von dem neuen Typen. Zu dem ich ihr noch geraten hatte. Wir sprechen Gefühls- und Sexdetails durch. Mich sticht´s ein wenig aber ich fange auch an zu begreifen dass das nichts wird mit uns. Sie ist männerfixiert. Nicht dass sie sich mit ihm verbundener fühlt als mit mir, aber sie kommt da nicht raus. Schließlich putze ich weiter. Meine Wohnung sieht top aus. Außer in den Schränken halt ;-) Bis auf Badezimmerschrank!
In dem Moment in dem ich fertig bin klingelt das Kind. Das Kind ist mittlerweile 19. Wir umarmen uns feste und lange. Essen eine Kleinigkeit zusammen, ich spiele ihr kurz was auf dem Akkordeon vor, zeige ihr die Fotos aus dem Urlaub. Sie erzählt von der neuen Wohung, von der Gegend, alle Nachbarn sind so nett. Erzählt wen sie für morgen eingeladen hat. Ich frage was der und der macht, ob der und der auch kommt, wie es in der Schule ist und schaue mir Fotos auf ihrem Smartphone an. Wir beschließen in die Stadt zu gehen.
Jetzt müsste ich ausholen und das Drama von neulich aufschreiben. Zu viel. Ich kann nichts mehr retten. Ich kaufe dem Kind eine warme Winterjacke, so wird sie nicht frieren wenn es kalt wird.