Gerade noch, auf dem Weg nach Hause, im Auto, auf den unzähligen Autobahnen und Autobahnkreuzen, musiklos, die Bierfreundin irgendwas am erzählen - ich wollte fast labern schreiben - schossen eine Millionen Gedanken durch den Kopf gekoppelt mit der Gewissheit, dass sie gleich, wenn ich die Freundin nach Hause gebracht, Bier geholt und geparkt habe, in eine Millionen Tränen gipfeln werden. Jetzt sitze ich endlich hier auf meinem Platz in meiner Küche, das erste Bier ist so gut wie auf und ich blockiere. Weiß nicht genau wo anzufangen zu weinen, weiß nicht genau welche Musik ich anmachen soll, weiß nicht genau welchen der vielen Gedanken ich mit unzähligen Tränen zuerst bedienen soll. Naja, erst mal Musik anmachen. Radio? Vielleicht ist es gar nicht so schlecht sich jetzt nicht reinzudenken. Meine übliche youtubetour? Vielleicht ist das ja genau der Clou an der ganzen Sache, nämlich dass ich es mittlerweile schaffe nach einem kurzen Depress-Schub dann doch nicht in Tränen und Weltuntergangsstimmung unterzugehen. Fällt mir denn gar kein Lied ein was ich jetzt mal eben raussuchen könnte? Hm...
Früher war das ja so: man konnte nicht jederzeit hören was man wollte denn man brauchte a ein Wiedergabegerät und b das gewünschte Lied in irgendeiner Form. Wie luxuriös ist das bitte heutzutage dass man quasi jederzeit jedes Lied hören kann auf das man gerade Lust hat!! Ich frage mich was das für die Sozialisation der jungen Menschen heutzutage bedeutet, wie es sie prägt dass sie jederzeit (fast) alles per Mausklick oder viel mehr noch per Fingerklick konsumieren können. Und überhaupt: wie endgeil könnte man bitte jetzt als Sowi darüber promovieren und forschen was durch diese neue immer-und-überall-Ära sich ändert blablabla....wir gehen mal davon aus dass sich das schon ein paar Leutchen als Projekte rangezogen habe. Eigentlich schade, fällt mir jetzt gerade ein, schade dass ich gar keinen Überblick mehr habe worüber gerade geforscht wird. Vor zehn Jahren hatte ich den perfekten Überblick...Und da komme ich wieder an den neulich schon neuverwundeten Punkt: ich fühle mich nicht mehr akademisch, ich habe das Gefühl ich bin nicht mehr gewachsen, all den Diskussionen, all den intellektuellen Themen und Gespräche. Ich fühle mich, als wäre ich raus. Es reicht noch so gerade eben um im Gespräch mit den jungen, aufstrebenden Akademikerkarrieremännern zwei Stunden gepflegte Konversation beim Bier zu pflegen bis ich sie dann mitnehme. Aber ich fühle mich schon nicht mehr in der Lage ihm eine entsprechende E-Mail zu schreiben. Ich komme da nicht mit. Ich kenne diese eine bestimmte amerikanische Schriftstellerin nicht. Kann nicht anknüpfen. Ich konnte mir vor lauter Bier nicht mal ihren Namen merken (sie lebt schon lange nicht mehr und hat vor allem Gedichte geschrieben. Irgendein eigentlich einfach zu merkender Name. Irgendjemand eine Idee, btw?).
Ich fühle mich als wäre ich raus. Beide engsten Freundinnen starten gerade die großen Lieben und ich weiß: da ist echt was dran (die beiden checken das jeder für sich übrigens noch nciht).
Ich fühle mich als wäre ich raus. Meine Mutter ist versorgt, mein Vater richtet sich ein irgendwie neues Leben ein. Letztes Jahr Weihnachten antwortete er fast überrascht, als ich fragte, was wir Weihnachten machen. Also wenn ich wollte könne ich ja vorbeikommen. Ich habe Angst dass er dieses Jahr komplett an mir vorbeiplant. Wenn meine Mutter bis dahin verstorben ist, wird das tatsächlich so sein.
Ich fühle mich als wäre ich raus. Als ziehen alle an mir vorbei. Und ich bleibe hier sitzen. Abend für Abend an meinem Platz, in meiner Küche.
Der Fuß blockiert. Seit drei Tagen wieder Schmerzen und es wird eher schlimmer als besser. Als gehöre er nicht zu meinem Körper. Es war immer schon mein Problemfuß aber ich habe ihn immer wieder irgendwie integrieren können. Geht nicht mehr. Fühlt sich fremd an. Als gehöre er nicht mehr dazu.
Dass ich diese Woche mindestens drei Jobangebote erhalten habe, nicht für jetzt sofort, aber perspektivisch für nächstes Jahr, und dass der Chef mir heute signalisierte, dass er perspektivisch nicht mehr in dem Saftladen arbeiten wird und dass ich diese Woche zwei perspektivisch wirklich gute Flirts hatte und - ach egal. Kein Kopf für "perspektivisch", keinen Kopf für Weitblick.
Das ist das warum mir Laufen fehlt. Kopf aufmachen, Weitblick. Aber es fühlt sich gerade an, als verengt der Blick immer mehr.
Es handelt sich um E.Dickinson. Mein Lehrer aus dem Urlaub wusste heute sofort wen ich meine.