Meiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie kann nicht mehr richtig schlucken. Menschen mit so einer Krankheit sterben entweder weil die Medikamente die Organe angegriffen haben oder weil irgendwann dann die Gehirnregionen angegriffen sind, die für die letzten bzw wichtigsten, lebenserhaltenden Regelungen im Körper zuständig sind. Wie beispielsweise das Schlucken. Sie quält sich sehr.

Und erkannte mich. "Das sind alles nur Annahmen!", ruft die Dicke aus.

Mein Vater hat heute Geburtstag. Es kamen keine Gäste. Auf dem Weg zu ihm nach der Arbeit freute ich mich auf die-und-die Freundin meiner Eltern, das-und-das befreundete Pärchen und hoffte dass die-und-die nervigen Verwandten schon weg seien. Als ich ankam und parkte erst Freude, dass der Wagen der Dicken noch nicht da stand, als ich das Haus betrat dann Ernüchterung: keiner da. Ein ganz normaler Pflegealltag. Meine Mutter auf halb hängend im Rollstuhl an ihrem (neuen) Platz vor Kopf am großen Esstisch, mein Vater telefonierend sie fütternd. Ich habe ein Geschenk in der Hand, ein gutes Buch, ein dickes, schweres Buch, schön eingepackt mit einem Marzipanglücksschwein draufgeklebt. Er füttert sie mit Geburtstagstorte, ich gebe ihm ein Zeichen dass er ihr zu trinken geben soll und sehe im selbem Moment wie ihr alles aus dem Mund rausläuft. Ihre Augenlider hängen schwer. Mit wem telefoniert er? Ich höre eine Frauenstimme, höre nettes und oberflächliches Gelaber, kann sie aber nicht einordnen. Gehe einfach erstmal aufs Klo, wie ich es hier gelernt habe: einfach mal eben kurz verschwinden, sich einschließen. (Ich bin nach Jaaahren immer noch dankbar für diesen Hinweis in einem Kommentar, danke nochmal). Er telefoniert immer noch. Es geht um das neue Gewächshaus. Mein Geschenk liegt ungeburtstagsmäßig passend zur Stimmung stumm auf dem Tisch. Das Marzipanglückschwein schwitzt unerkannt unter der Platikfolie vor sich hin. Ich setze mich auf (seinen) meinen neuen üblichen Platz, warte dass das Telefonat endet. Die Frauenstimme am anderen Ende immer noch nicht erkannt. Als er mir sagt wer das war denke ich nur: ja klar!. Wir umarmen uns. Wir sprechen über Mama, es geht ihr nicht gut, fachsimpeln, überlegen was die Pflegeeinrichtung falsch gemacht hat, überlegen was los ist. Ich breche ab, denn es führt zu nichts und gehe in den Geburtstagsgeschenkübergeb-modus. Ein Buch über Gewächshäuser! Klasse! Nein, so eins hat er nocch nicht, er hat sich noch nicht eingelesen. Aber der Bauunternehmer hat heute schon mal die Fundamente gelegt. Ich freue mich dass mein Geschenk noch eine (Wissens-)Lücke füllt. Irgendwas geht an der Tür, und die Tür geht nicht auf, ich öffne: sie ist da. Ich fragte zwiscchendurch ab wer im Laufe des Tages da war, wer angerufen hatte usw. Sein kleiner Bruder kam vorbei (mein lieber Patenonkel) und die Tante klingelte auch an (kleiner Schwester meiner Mutter). Per Handy hatten sich auch ein paar (wenige) gemeldet, sonst niemand. Das Festnetztelefon ist defekt (immer Besetztzeich.). Ich drehe es direkt um: ach ist ja fast gut, sonst hättest du heute nonstop am Telefon gehangen! Meiner Mutter geht es so schlecht dass man mit ihr wie mit einem vierwochenalten Säugling beschäftigt ist. Und es ist spürbar: kaum einer hat sich gemeldet, kaum einer kam vorbei. Was wir essen wollen fragt er die Dicke und mich, der braten würde sich nicht lohnen, stand unausgesprochen in der Luft. Ein Bratwürstchen, ja wie klasse! Die Dicke und ich sprechen unabgesprochen als Team und dafür dass die Stimmung schlecht sein könnte ob der fehlenden Geburtstagsgäste, halten wir die Stimmung ohne Probleme gut hoch. Und ich merke im Laufe des Abends: damit mache ich ihm ein Geschenk: ich nehme sie so, die Situation so, wie sie sind.

ahhhhh mist, verschrieben
tbc




Die Dicke kam quasi direkt nach der Geschenkübergabe und quasi in dem Moment, als ich meinte, dass ich jetzt Mama übernehme, sprich den Platz des Fütternden übernehme. Das mit den Plätzen an einem Familienesstisch ist ja nun mal so: jeder hat seinen platz. Die Plätze in meinem Elternhaus haben sich geändert in den letzten Jahren. Meine Mutter sitzt jetzt (wegen Rollstuhl) immer vor Kopf, da hat sonst nie einer gesessen. Der, der ihr das Essen anreicht (!), sitzt auf ihrem alten Platz. Und der, der denjenigen, der ihr das Essen anreicht, unterhält, der sitzt auf dem ursprünglichen Platz meines Vaters. Die ursprünglichen "Kinder"plätze (sprich meiner und der meiner Schweste) sind jetzt immer mit Platzfüllern :-) also mit irgendwelchen anderen Leuten die das sind (wie die Dicke) besetzt. Hört sich kompliziert an, ist es aber es aber nicht. Es hat sich einfach nur gewandelt.

Jedenfalls saß ich dann lange auf ihrem alten Platz und habe ihr das Essen angereicht, bzw nur noch was zu trinken und habe sie angestrahlt und ihr gut zugeredet (zugeflüstert, das ist unser Modus) und sie erkannte mich schnell.

Nun ja. Sein Geburtstag. Als ich gehen will stehen wir noch kurz zusammen vorm Fernseher und sehen was die Gelben so treiben. Wir stehen neben dem Pflegebett bei meiner Mutter. Wir stehen im eigentlichen Wohnzimmer. Fußball im Hintergrund. Er legt seinen Arm um mich und wir drei sind zusammen beim Fußball: meine Mutter im Bett, er und ich stehend das Spiel verfolgend. Wir drei sind zusammen, ich möchte den Moment festhalten. Spüre eine Hand an meinem Arm, denke es ist meine Mutter. Plötzlich sagt die Dicke irgendwas situationskillendes.



Und ich? Ich sitze jetzt im guten Mantel mit eingefrorenen Fingern tippend in der Kälte und in der Dunkeheit auf meinem Balkon, rauchend und biertrinkend und nicht weinend, all das aufschreibend.

Ich rauche nicht mehr in der Wohung. Und bei der Hotelbuchung für die Kongresse im mai habe ich schon angegeben: unbedingt nciht-raucher-zimmer.