Dienstag, 10. September 2013
Ich war vierzehn oder so, achte Klasse. Ich erinnere mich noch genau. Es war der Frühsommer, in dem ich in der Schule noch schnell Gas geben musste um das Schuljahr zu packen und irgendwie lief alles, wenn auch mit großem Druck verbunden. Zu Pfingsten war ich soweit, dass ich nur noch ein oder zwei schlechte Noten mit den letzten Klausuren wett machen musste. Neben mir saß M., ein schlaues Mädchen, mit nicht-akademischen Migrationshintergrund; sie gab mir vor Klausuren ihre in Feinarbeit angefertigten Spicker: hier, nimm du, aus dir wird nochmal was. Ich müsste sie eigentlich mal ausfindig machen...und mich bedanken...

Zu Pfingsten charterten meine Eltern mit ihren besten Freunden zusammen ein Schiff mit dem wir drei (ohne meine Schwester) und deren Sohn und seinem besten Freund das Wochenende auf niederländischen Kanälen verbrachten. Es war Sommer. Ich war recht sportlich zu der Zeit. Die Anfahrt war schrecklich, mein Vater verfuhr sich, meine Eltern kannten sich beide nicht wirklich aus und es dauerte gefühlte zehn Stunden bis wir den Hafen in dem das Schiff lag Freitag abends erreichten. Aber irgendwie war alles gut. Ich frage mich was ich für Musik zu der Zeit hörte, was zu der Zeit lief. Das alles ist zwanzig Jahre her. Zwanzig Jahre. Ich fass es nicht.
Der damals beste Freund von dem Sohn der Freunde der Eltern war klasse. Hatte gerade Abi gemacht, mit Anfang zwanzig, da er zwischendurch mit seinen Eltern im Ausland gelebt hatte. An einem Hafen rief er einen Mitschüler von einer Telefonzelle aus an um nach seinem Durchschnitt zu fragen, der an dem Freitag bekannt gegeben worden war. Der Durchschnitt war zu schlecht für das was er vorhatte, ich glaube er wollte Psychologie studieren oder als Plan B Fluglotse werden, sowas irgendwie. In meinen Augen damals was ganz Großes. Sein Abi war zwei Komma irgendwas, vllt zwei komma eins.
Er trug nur fünfnulleins und sie waren wie für ihn gemacht. Er war blond, kurze Haare, leuchtend blaue Augen, komplett drahtig durchtrainiert. Und er war sooo nett! Alle wussten dass ich ihn ihn verliebt war, er wahrscheinlich auch. Aber er war natürlich unheimlich alt und groß für mich. Er war über zwanzig!!! Und er unterhielt sich mit mir, brachte mir surfen bei, war einfach nett zu mir. Das war alles so großartig für mich. Abends gingen die Jungs in den Häfen aus, ich schlief. Sie schliefen auf den Bänken im Schiff, ich schlief im Bug, die beiden Eltern in den Kajüten. Ich hatte ein tolles großes Badelaken von einer damals sehr angesagten Marke und als einmal ein Windstoß aufkam und es im Wasser landete, war er schon dabei sein TSchirt auszuziehen um ins Wasser zu springen und es zurück zu holen. Das Schiff hinter uns (es war quasi Stau) hatte es aber schon mit einer Stange eingefangen. Was für eine Aufregung!
Er hatte von besagter Marke eine Lederjacke die ihm naürlich unheimlich gut stand. Der ganze Typ war einfach damals für mich das non plus ultra. Hätte man Anfang der Neunziger den perfekten Typen abgebildet - er wäre es gewesen. Am letzten Tag wurde noch ein Foto von uns beiden gemacht, am Hafen vorm Schiff, er legte den Arm um mich. Und ich erinnere mich noch genau wie ich M. am Dienstag danach in der Schule alles ganz genau erzählte. Ich wär so schön braun gebrannt, mein Nacken sei zum Anbeißen, sagte sie damals.
Wir sahen uns immer wieder mal, aber eher selten. Ich hörte aber stets von den Freunden meiner Eltern was er machte, auch wenn die Freundschaft zwischen ihm und dem Sohn auf der Strecke blieb. Zuletzt hatte er die Kneipe seiner Oma mitten im Ruhrpott übernommen. Er sei sein bester Kunde gewesen. Verheiratet war er dann auch. Immer wieder in den letzten Jahren dachte ich, ich müsse dort einfach mal vorbeifahren, mich an den Tresen setzen und ihn überraschen.

Gestern schreibt mir die Freundin meiner Mutter eine Nachricht. Er ist mit dem Motorrad verunglückt.

Ich möchte mich betrinken, möchte weiter aufschreiben, die vielen Erinnerungen, möchte die Musik von damals raussuchen, möchte dem Abend einen entsprechenden Rahmen geben, möchte darüber schreiben, wie sich das anfühlt Erinnerungen aufzuschreiben die zwanzig Jahre zurück liegen, möchte mit jeder Zelle an ihn zurückdenken, möchte mich dem Gefühl hingeben wie das zum ersten Mal im Leben ist wenn jemand stirbt dem man eigentich noch so sehr treffen und sprechen mochte.

Im Hintergrund die Musik aus Sommer 2013. Die Uhr zeigt mahnend den Wecker von morgen um dem großen Stau am Westhofener Kreuz zu entgehen. Der Kopf schiebt Panik ob der wichtigen Termine morgen in diesem neuen Lebensabschnitt. Mein Vater wird nochdazu länger verreisen. Und der Typ von neulich schickt drei Nachrichten und ich müsste mal entscheiden ob ich antworten will oder nicht. Hinzu immer noch der schale Nachgeschmack vom miesen Weiterbildungswochenende. Es bleibt doch wie immer: alles zu viel.



Samstag, 7. September 2013
Was ist das denn bitte??? Es ist so unglaublich.

Nach meinem letzten Tag in der alten Firma verabschiedete mich mein Nachfolger als ich aus dem Parkhaus rausfuhr um meine Parkkarte zu übernehmen. Er sagte: Herzlich willkommen im neuen Leben! Er war vorher in einer ähnlichen Stellung die ich jetzt habe. Er prophezeite mir, dass alles besser werden würde. Und so ist es. Mein neues Leben. Es fühlt sich an wie neugeboren. Es fühlt sich an als würde jetzt mein Leben beginnen. Auf einmal spielt sich alles in die richtigen oder vielmehr meine Bahnen. Als hätte alles in den letzten Jahren so sein müssen wie es war damit es jetzt so toll wird. So sehr meins.

Es kommt mir vor als hätten dort alle eine Freundlichkeitspille geschluckt, so nett und hilfsbereit und herzlich und kollegial werden ich von allen Seiten empfangen. Die Atmosphäre ist eins a. Diejenigen, die ich als vom Job frustriert einschätzen würde, sind so drauf, wie diejenigen Kollegen in der alten Firma, die dort glücklich waren. Ich wusste gar nicht von diesen Dimensionen. Was als Stress benannt wird war früher mein Urlaub. Man gibt mir unendliche Freiheit, alle genießen dort Freitheit und ich even more. Am zweiten oder dritten Tag frage ich vorsichtlich nach, wie meine Arbeitszeiten seien. Man antwortet mir, dass wenn ich mehr anwesend als nicht-anwesend wäre, alles ok sei. Wenn ich mal ein paar Tage von zu Hause arbeiten würde, solle ich aber kurz bescheid geben - falls mich mal jemand sucht. Ich gehöre zu keiner Abteilung oder irgendwas, bin Stabsstelle. Es gibt keinen Vorgesetzten für mich. Wahrscheinlich ist das der Oberboss, aber den kenne ich noch nicht (und es gibt bisher auch keinen Termin an dem ich ihn kennen lernen soll. Werde irgendwann auf ihn zugehen). Als ich am zweiten Tag bereits ein Türschild habe, ist man erstaunt über mein Engagement. Ich spreche einfach diejenigen an, von denen ich denke sie seien wichtig und stelle mich bei ihnen vor. Man ist begeistert von mir. Ich verschaffe mir binnen einer Woche einen Überblick. Ich bin begeistert von mir. Schaue mich im Spiegel an und denke: wow, das bin ich??

Musik vom Feinsten non stop. Beste Urlaubserinnerungen. So viel Kraft. Freunde, alle peu á peu zurück aus den Urlauben. Umarmungen. Liebe. Ein Platz für mich! Als ich gestern Abend lange laufen war, kam ich an einem neuen Schulgelände vorbei. Als dort vor einigen Wochen früh morgens niemand war, hängte ich mich an das neue Klettergerüst und zog ein paar Klimmzüge. Oder sprang über die Betonblöcke. Als gestern abend dort ein paar Jungs Basketball spielten, lief ich trotzdem hin, zog ein paar Klimmzüge, sprang hundert mal über die Blöcke, zog noch ein paar Klimmzüge, streckte mich in die Sonne, spielte den verlorenen Ball zurück und nahm einfach auch einen Platz dort ein. Plötzlich fühlt es sich an als hätte auch ich einen Platz in dieser Welt.

Und am geilsten: es fühlt sich alles nicht geschenkt sondern erarbeitet an. Die Stelle habe ich ohne Vitamin B bekommen oder viel mehr mir besorgt. Kein Gedanke wie: oh, alles so toll, da muss ein Haken sein oder: alles so toll, jetzt passiert bestimmt was Schlimmes. Nein, alles erarbeitet, alles verdient, für alles die letzten Jahre schon bezahlt.

Es ist lange her dass ich so glücklich war. Und ich genieße...



Montag, 2. September 2013
Woanders ist auch scheiße stimmt nicht. Schon als ich im Juli dort war, empfand ich die Stimmung als symphatisch, herzlich, entspannt. Und genauso war es auch heute an meinem ersten Tag. Ich bin oberglücklich.